Pfingsten: Das Fest des Heiligen Geistes

„Ten – nine – eight – seven – six – five – four – three – two – one – zero – LIFT-OFF!“ So zählt jedes Mal eine Stimme herunter, wenn in Cape Canaveral eine Rakete startet, um beispielsweise Astronauten in die ISS zu bringen. Bei „START“ geht’s dann endgültig los: Feuer, Funken, Krach, Getöse – selbst die Nachrichtenzuschauer halten vor ihren heimischen Fernsehern wohl unwillkürlich kurz den Atem an in diesem spannenden und gefährlichen Moment, in dem sich so viel entscheidet.

Das Christentum zählt den Countdown vor wichtigen Ereignissen ebenfalls zu den Schätzen seiner aus dem Mittelalter stammenden Traditionen, allerdings unter einer anderen Bezeichnung. Vielleicht war sie schon einmal mehr in Mode, aber immer noch beten manche in diesen Tagen die sogenannte Pfingstnovene zum Heiligen Geist. Damit bezeichnet man ein tägliches Gebet, das neun (lat. novem) Tage vor dem Pfingstsonntag beginnt und in dem der Heilige Geist um sein wandelndes Kommen und das Aussenden seiner schöpferischen Kraft angefleht wird. Also auch: „Neun – acht – sieben – …  – zwei – eins – PFINGSTEN!“

Die ersten Jünger in Jerusalem

Dem Countdown von Cape Canaveral und der Pfingstnovene ist manches gemeinsam: Indem die Zeit vor einem bestimmten Ereignis heruntergezählt wird, zeigt sich, wie wichtig das angezählte Ereignis ist – für die NASA beim Raketenstart und für die Christen die Erinnerung an die erste Herabkunft des Heiligen Geistes auf die einmütig versammelten Jünger in Jerusalem (vgl. Apg 2, 1-11). In beiden Fällen baut sich eine unvermeidliche Spannung auf, die sich erst am Nullpunkt wieder löst. Es heißt dabei: Ganz oder gar nicht! – geglückter Raketenstart oder Abbruch des Startversuchs in Florida. Auch in Jerusalem stand für die junge Kirche alles auf dem Spiel: Wären die Jünger, im Obergemach des Abendmahlssaales aus Furcht vor den Repressalien der nicht-christlichen Jerusalemer eingeschlossen, dort betend ein Opfer ihrer eigenen Ängste geblieben, hätte sich das Christentum nicht ausbreiten können und hätte es nie eine Pfingstnovene gegeben.

Doch gibt es bei allen Gemeinsamkeiten zwischen dem Countdown der NASA vor einem Raketenstart und der Pfingstnovene der katholischen Kirche vor dem Pfingstfest einen gewaltigen Unterschied. Der Countdown der NASA dient wie die meisten anderen Countdowns dazu, einen wichtigen und sensiblen Vorgang auf den Punkt festzulegen, damit die Anstrengungen aller Beteiligten exakt ineinandergreifen können. Gewaltige Kräfte, wie sie bei einem Raketenstart wirken, müssen koordiniert, ja kontrolliert werden, um nicht in einer Katastrophe zu enden wie beim Start der Challenger im Jahr 1986.

„Sende aus deinen Geist und das Antlitz der Erde wird neu.“

Und Pfingsten? Um große Kräfte, die der Heilige Geist freisetzen soll, handelt es sich aus theologischer Sicht beim Pfingstfest auch. Nur das mit der Kontrolle über diese Kräfte, das ist nach christlicher Vorstellung ganz anders als beim (hoffentlich) kontrollierten Raketenstart. „Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht.“ (Joh 3, 8) sagt Jesus im Johannes-Evangelium, um die Unverfügbarkeit des Geistes Gottes zu beschreiben. Auch in der Kirchengeschichte beriefen sich radikale Erneuerungsbewegungen, die schnell mit der amtlich verfassten Kirche in Konflikt gerieten, immer wieder gerne auf den alle (auch hierarchische) Grenzen übersteigenden Geist, etwa die Katharer. Und tatsächlich: „Sende aus deinen Geist und das Antlitz der Erde wird neu.“ (vgl. Ps 104, 30) wird in der römisch-katholischen Pfingstliturgie flehentlich gesungen oder gebetet.

Doch wie ernst ist diese Bitte um Erneuerung eigentlich gemeint? Mit wie viel Neuheit rechnet die Beterin und der Beter, wenn sich Gottes alles wandelnde Kraft einmischen soll? Das Herabflehen und Einzählen des Heiligen Geistes ist nicht nur in der Pfingstnovene mit dem Risiko verbunden, dass sich mehr oder anderes erneuert als gedacht, dass mehr in Frage gestellt wird als dem Betenden zunächst vorgeschwebt sein mag. Was nämlich, wenn sich das, was einer bisher für die Taube des Heiligen Geistes hielt, als dessen eigener Vogel herausstellt und ihn der Geist Gottes aus einer ganz anderen, ungewollten Richtung anweht? Das kann passieren. Aber Pfingsten macht Mut, auch dann auf einen glücklichen Flug zu vertrauen, wenn die tatsächliche Flugbahn möglicherweise von den eigenen Berechnungen abweichen sollte.