Botanik und Heilpflanzen

Botanische Handschriften wie der stilprägende Wiener Dioskurides oder der kunstvolle Kodex Tractatus de Herbis, bekannt unter der Signatur Sloane 4016, zählen zu den historisch bedeutendsten Werken des Mittelalters. In der Wissenschaftsgeschichte stellen sie eine Brücke zwischen dem Wissen der Antike und der modernen Medizin dar, eröffnen kulturgeschichtliche Einblicke in das mittelalterliche Alltagsleben und bieten Kunsthistorikern die Möglichkeit, die Entwicklung der europäischen Ästhetik zurückzuverfolgen.

Die oft reich und naturgetreu illuminierten Werke waren die Basis einer jeden Heilbehandlung im Mittelalter. In speziell dafür angelegten Kräutergärten, etwa in den Klöstern, wurden die darin abgebildeten und beschriebenen Heilpflanzen gezüchtet. So war es den Menschen möglich, praktisch jedes Leiden und jede Krankheit zielgerichtet zu behandeln.

Diese Kräuterbücher wurden von der Spätantike bis zur Renaissance hergestellt und verwendet. Sie sind nahezu die einzigen Quellen aus der Antike, die im lateinischen Westen bis zur Renaissance erhalten geblieben sind. Andere fanden in Übersetzungen arabischer oder hebräischer Quellen, die ihrerseits antike Texte überlieferten, ihren Weg nach Europa. Mittelalterliche botanische Manuskripte waren ein wesentlicher Bestandteil des Fundaments, von dem die moderne Wissenschaft ihren Ausgang nahm, und stellen auch heute noch eine überaus begehrte Gattung mittelalterlicher Buchkunst dar.

Veranschaulichung anhand einer Beispielseite

Tractatus de Herbis - Sloane 4016

Absinthium

Neben einem Jongleur in fließenden Gewändern aus Rot, Blau und Grün zeigt diese Seite detailliert zwei Arten von Wermut, dem Hauptbestandteil des Absinths. Diesem berühmten grünen Likör wurden historisch psychogene Effekten zugeschrieben und er lässt an viele berühmte Künstler und Schriftsteller denken, insbesondere im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert.

Wermut faszinierte mittelalterliche Alchemisten und sein Bezug zu Wahnsinn und Unordnung ist schon biblisch: „Der dritte Engel blies seine Posaune. Da fiel ein großer Stern vom Himmel; er loderte wie eine Fackel und fiel auf ein Drittel der Flüsse und auf die Quellen. Der Name des Sterns ist «Wermut». Ein Drittel des Wassers wurde bitter und viele Menschen starben durch das Wasser, weil es bitter geworden war.“ (Offb 8, 10-11)