Die Lebensbrunnen-Ikonografie: Von heilsspendenden Quellen und Paradiesgärten

Wasser ist Leben! Städte siedelten sich an Flüssen an, in trockenen Regionen sind Brunnen und Quellen die unverzichtbare Grundlage für jegliches menschliches Leben. Lange schon vor den Zeiten zunehmender Dürren und Wasserknappheiten haben Oasen in der Wüste als Symbolbild sogar Einzug in unsere Sprache gehalten. Zugleich führen uns Starkregenereignisse, Überschwemmungen und Fluten die zerstörerische Kraft der lebenswichtigen Ressource vor Augen.

Auch in der christlichen Symbolwelt spielt Wasser immer wieder eine zentrale Rolle

Vor diesem Hintergrund mag es nicht verwundern, dass sich wohl schon seit frühesten Menschheitstagen zahllose Legenden um dieses Element ranken. Auch in der christlichen Symbolwelt spielt Wasser immer wieder eine zentrale Rolle – etwa bei der Taufe, die ursprünglich eng mit der Vorstellung des sogenannten Lebensbrunnens verbunden war.

Die Quelle des Lebens

Plätscherndes Wasser und paradiesische Landschaften – das sind zwei Kernelemente von Darstellungen des Lebensbrunnens, lateinisch fons vitae. Die Bildidee einer solchen „Quelle des Lebens“ existiert seit frühchristlicher Zeit und fand im Mittelalter und in der Neuzeit verschiedene Ausprägungen. Dabei entwickelten sich allerdings keine einheitlichen Bildtypen wie etwa im Falle der Kreuzigung Christi oder der Verkündigung Mariae. Vielmehr variierten die Künstler die kreative Gestaltung des Brunnens beziehungsweise der Quelle und betteten das Thema oftmals in andere Ikonografien ein. Ein besonders kunstvolles Beispiel hierfür ist eine Miniatur aus den Belles Heures du Duc de Berry, die die sogenannte Löwenlegende des Kirchenvaters Hieronymus neben einem schlanken gotischen Brunnenhaus zeigt.

Erlösung und ewiges Leben

Was bedeutete der Lebensbrunnen nun aber in der mittelalterlichen und neuzeitlichen Bildwelt? Zuallererst verweist das Wasser des fons vitae auf die Taufe und die Wiedergeburt und damit auch auf die Erlösung des Menschen von seinen Sünden beziehungsweise dem irdischen Dasein. Das Wasser spendet Leben und Heil. Damit präfiguriert der Lebensbrunnen als Ganzes das christliche Taufbecken, das im Übrigen ebenfalls häufig als fons vitae bezeichnet wurde. Durch diesen Bezug ist eine Darstellung des Lebensbrunnens auch immer eine Metapher für Christus, der mit seinem Opfertod am Kreuz das Heilsversprechen der Kirche symbolisiert. Das Wasser in der Quelle des Lebens entspricht dem Blut, das er vergossen hat. Zugleich verweist es auf die Seitenwunde Christi, aus der nicht nur Blut, sondern auch Wasser austrat. Ersteres wurde als Symbol der Eucharistie, letzteres als Symbol der Taufe gedeutet.

Eine Vorahnung des Paradieses

Die vielschichtige Bedeutsamkeit des Bildthemas wird oft durch eine passende Paradiessymbolik ergänzt. So werden häufig symbolisch aufgeladene Tiere und Pflanzen um den Brunnen herum angeordnet, wie es etwa im Godescalc-Evangelistar der Fall ist. Vögel mit prächtigem Gefieder und rote Rosen gaben dem Betrachter eine Vorstellung davon, wie das Paradies aussieht. Später wird der Lebensbrunnen auch gerne in eingefriedeten Paradiesgärten oder in satten grünen Landschaften gezeigt.

Vom Tholos zum Springbrunnen

In diesem Bedeutungskontext nahm der fons vitae sehr unterschiedliche Formen an. Im frühen und hohen Mittelalter war die Darstellung als Tholos, also als Rundtempel, recht verbreitet. Hierbei wird die eigentliche Einfassung der Quelle von einem Kegeldach überspannt, das auf mehreren Säulen ruht, wie das Blatt aus dem Codex Aureus von St. Emmeram oder auch die Seite aus dem Godescalc-Evangelistar zeigen.

Einfachere Varianten verbildlichen den Lebensbrunnen als schlichte Quell-Einfassung, etwa in Form eines rechteckigen Kastenbrunnens wie im Bedford-Stundenbuch, oder aber als vasen- beziehungsweise kelchförmiges Gefäß, das von zwei Vögeln flankiert wird. Mit der Zeit wurden aber auch mehrstöckige Brunnenhäuser und detailverliebte Springbrunnen, wie etwa derjenige auf Jan van Eycks sogenanntem Genter Altar, beliebt, um das Thema aufzuzeigen.

Der Paradiesberg

Eine besondere weiterentwickelte Variante ist der Paradiesberg, aus dem die vier Paradiesflüsse Phison, Geon, Tigris und Euphrat entspringen. Sie wurden mit den vier Evangelisten assoziiert, die die Lehre Christi verbreiteten. Dementsprechend sind zwei Seiten des Evangeliars Ottos III. gestaltet, die dem Matthäus- und dem Lukas-Evangelium vorangestellt sind. Christus erscheint in beiden Miniaturen als Heilsquelle und wird zentral über einer Ansammlung von Felsen dargestellt, aus denen je Bild zwei der vier Paradiesflüsse herausströmen. Dabei fehlen auch die passenden Evangelistensymbole nicht, die in Medaillons über Christi Haupt in die hieratischen Kompositionen eingebunden werden.

Blut als Lebenselixier

Eine weitere Sonderform der Lebensbrunnen-Ikonografie stellt der fons pietatis, deutsch Gnadenbrunnen, dar. Hier wird die Erlösung durch Christi Opfertod klar in den Fokus gesetzt, indem der jeweilige Brunnen anstelle von klarem Wasser, das Blut des Geopferten enthält. Dieser wird meist als Gekreuzigter oder als Schmerzensmann über der Brunneneinfassung dargestellt, die als Auffangbecken seines herabströmenden Blutes dient. Diese recht blutrünstig anmutende Darstellungstradition entwickelte sich im Spätmittelalter aus dem Bedürfnis heraus, in der privaten Frömmigkeit das Leiden Christi nachempfinden zu können, und war vor allem in der Tafelmalerei verbreitet.

Die Kraft des Wassers

In der Neuzeit setzt sich die Vorstellung von den mythischen Kräften bestimmter Wässer und Quellen fort. So erfreut sich etwa die seit der Antike bekannte Legende vom Jungbrunnen, der Quelle des ewigen Lebens, großer Beliebtheit, etwa bei Glücksrittern, die in der Neuen Welt danach suchten. Viele Gemälde alter Meister zeigen die sagenhafte Quelle, die den Trinkenden und Badenden Verjüngung und Heilung verspricht. Und noch heute beschäftigen sich Menschen mit besonders gesunden, heilenden oder energetisierenden Quellwässern – man denke nur an Thermalbäder oder das geradezu sagenumwobene Fiji Wasser. Wie wir gesehen haben, liegt dieser Faszination eine lange Tradition und eine spannende Lebensbrunnen-Ikonografie zugrunde.

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