Bestiarien
In der Fülle mittelalterlicher Bilderhandschriften werden die Bestiarien oder „Tierbücher“ nur von der Bibel und den Stundenbüchern an Beliebtheit und Verbreitung übertroffen. Besonders für die Buchmaler und Illustratoren bot diese Textgattung mit ihren Beschreibungen dutzender oder hunderter bizarrer Tiere, wie man sie beispielsweise im fabelhaften Bestiarium von Peterborough vorfindet, eine einmalige Gelegenheit, ihre ganze Bandbreite künstlerischer Kreativität darzubieten.
Für besonders prächtig ausgestattete Codizes wurde wertvolles Blattgold verwendet, wie etwa im reich bebilderten Oxforder Bestiarium. Nichtsdestotrotz waren dies nicht nur proto-zoologische Werke, vielmehr wurden die beschriebenen Tiere als allegorische Wesen gedeutet, deren tatsächliche oder erdichtete Eigenschaften im mittelalterlichen Bewusstsein mit christlich-moralischen Lehren assoziiert wurden.
Die Wurzeln dieser mittelalterlichen Manuskriptgattung reichen bis in die Antike zurück, und die davon heute noch erhaltenen Exemplare zählen zu den begehrtesten, kunstvollsten und faszinierendsten Buchwerken des Mittelalters. Sie eröffnen einen einzigartigen Einblick in die Denk- und Vorstellungswelt der Menschen im mittelalterlichen Europa.
Veranschaulichung anhand einer Beispielseite
Ein mittelalterliches Tierbuch
Frage doch das Vieh, das wird dich's lehren, und die Vögel unter dem Himmel, die werden dir's sagen, oder die Sträucher der Erde, die werden dich's lehren, und die Fische im Meer werden dir's erzählen. Wer erkennte nicht an dem allen, dass des HERRN Hand das gemacht hat, dass in seiner Hand ist die Seele von allem, was lebt, in seiner Hand auch der Geist im Leib eines jeden Menschen?
Buch Hiob 12, 7-10
Das Bestiarium oder "Tierbuch" stellt eines der unterhaltsamsten und beliebtesten Genres mittelalterlicher Literatur dar, das sich hervorragend für eine reiche Illumination eignete. Es erlaubte dem Buchmaler, seine gesamte künstlerische Bandbreite zu entfalten. Die Qualität der Bilder hing vom umfassenden Können des jeweiligen Künstlers ab, so dass die Gestaltung von einfachen Zeichnungen bis hin zu raffinierten Kunstwerken reichen kann, die mit satten Farben und Blattgold ausgeführt wurden.
Bestiarien kombinierten christliche Allegorie mit quasi-zoologischen Informationen über das entsprechende Tier, einschließlich Gesteinen und Mineralien. So galten Austern als eine Art lebender Stein, der Perlen hervorbrachte. Diese Werke basierten auf dem Glauben, dass Gott die Natur mit der Absicht geschaffen hatte, die Menschheit zu belehren, wie aus dem obigen Bibelzitat hervorgeht. Das Bestiarium aus Peterborough zeigt beispielsweise eine Krähe, die die Liebe und Sorge während der Kindererziehung verkörpert. Bestiarien und die darin enthaltenen Lehren sind ein bedeutender Einblick in die mittelalterliche Vorstellungswelt.
Wurzeln im Altertum
Wie so viele mittelalterliche Buchgattungen haben auch die Bestiarien ihre Wurzeln in der Antike. Tierallegorien, von denen die Aesop-Fabeln die berühmtesten sind, waren beliebte Metaphern klassischer Autoren. Ein frühes Beispiel für einen solchen allegorischen Text ist der Physiologus, der im 2. oder 3. Jahrhundert in Alexandria in griechischer Sprache verfasst wurde. Er wurde in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt und zählte im Mittelalter neben der Bibel zu den populärsten Schriften.
Die reiche Bildsprache des Bestiariums besaß eine starke Anziehungskraft auf eine Gesellschaft, in der vermutlich weniger als 5 % der Bevölkerung fließend Latein lesen konnte, obwohl es während des größten Teils des Mittelalters die einzige offizielle Schriftsprache war. Prediger benutzten Bestiarien in Predigten zur Unterweisung von Laien, die zwar mehr oder weniger Analphabeten waren, sich aber dennoch an die moralische Lektion erinnern würden, die mit der jeweiligen Tierart verbunden war. Somit hatten diese Manuskripte nicht nur einen informativen und unterhaltsamen, sondern auch einen sehr lehrreichen Charakter.
Ein mittelalterlicher Bestseller
Obwohl das Bestiarium hinsichtlich der Anzahl der im Mittelalter produzierten Handschriften nach der Bibel an zweiter Stelle lag, beschränkte sich seine Herstellung weitestgehend auf die Ländereien der Normannen in England und Nordfrankreich. Ab dem 11. Jahrhundert etablierte sich das Genre und erreichte seinen Höhepunkt im 13. Jahrhundert. Meist waren sie in lateinischer Sprache verfasst, es gab sie allerdings auch in Volkssprachen, insbesondere in Französisch, aber auch in Italienisch. In spanischer Sprache ist ein einziges Werk erhalten - das Bestiarium von Juan d'Austria (ca. 1570), das Juan d'Austria, dem unehelichen Sohn von Kaiser Karls V., gehörte, der als Sieger der Schlacht von Lepanto (1571) in die Geschichte eingegangen ist.
Die Wirklichkeitsnähe der Darstellungen in Bestiarien war nicht immer gegeben, da die Buchmaler die meisten Tiere wahrscheinlich nie gesehen hatten und sich daher lediglich auf andere Darstellungen der jeweiligen Tiere stützten konnten, die ihnen vertraut waren. So beinhaltet das Bestiarium aus Westminster zum Beispiel eine berühmte Darstellung eines Kriegselefanten mit einem ganzen Schloss auf dem Rücken.
Obwohl auch Fabelwesen neben gewöhnlicheren Tieren aufgeführt wurden, ist es wohl ein moderner Irrglaube, dass alle mittelalterlichen Menschen dachten, dass Einhörner, Drachen und Greifen existierten - einige taten das sicher, aber viele verstanden sie als metaphorisch.
Vollständige Bestiariumszyklen sind im Queen Mary Psalter und im Isabella Psalter zu sehen. Auch andere Handschriften enthalten in ihren Marginalien Bilder von Tieren. Solche wurden zudem in Kirchen und Klöstern in Holz und Stein geschnitzt, in Mosaiken dargestellt und in Wandteppichen eingewoben. Die allgegenwärtige Präsenz dieser Tiermotive brachte einige wie den heiligen Bernhard von Clairvaux auf, der circa 1127 schrieb:
"Welchen Nutzen haben diese absurden Monster, diese wundersame und deformierte Anmut, diese anmutige Deformierung? Wozu dienen diese unreinen Affen, diese wilden Löwen, diese monströsen Zentauren, diese Halbmenschen, diese gestreiften Tiger, diese kämpfenden Ritter, diese Jäger, die ihre Hörner winden? [...] Kurz gesagt, so viele und wunderbare Formen auf jeder Seite, die uns dazu verleiten, lieber in dem Marmor als in unseren Büchern zu lesen und den ganzen Tag damit zu verbringen, über diese Dinge zu staunen, anstatt über dem Gesetz Gottes zu meditieren. Um Gottes Willen, wenn sich die Menschen für diese Torheiten schon nicht schämen, warum scheuen sie dann nicht wenigstens vor dem Preis zurück?"
Vom Bestiarium zur Enzyklopädie
Das Aufkommen von Enzyklopädien im 13. und 14. Jahrhundert bedeutete das Ende des Bestiariums, da dieser neuen Textgattung allegorische Inhalte fehlten. Diese proto-wissenschaftlichen Texte versuchten, jegliche irreführenden Informationen zu beseitigen, wobei die Autoren es jedoch oft zu gut meinten. So wurden einige der richtigen Beobachtungen in den mittelalterlichen Bestiarien wie beispielsweise der Vogelzug, von frühneuzeitlichen Naturphilosophen zusammen mit wirklich fehlerhaften Behauptungen eliminiert, nur um später von der modernen Wissenschaft bestätigt zu werden.
Mittelalterliche Bestiarien verbreiteten jedoch auch einige Mythen, die aber meistens eine tiefere Bedeutung besaßen. So wurde unter anderem angenommen, dass Bärenbabys ungeformt geboren werden und erst von ihrer Mutter in Form geleckt werden müssten (eine Metapher für die Verantwortung der Elternschaft). Auch würden Krokodile weinen, nachdem sie einen Menschen gefressen haben, und Ochsen wären nicht nur stark, sondern könnten auch das Wetter vorhersagen, obwohl nicht klar ist, wie sie diese Informationen hätten vermitteln können. Auf der anderen Seite wurde jedoch richtigerweise vermutet, dass die Zahl der Fischarten nicht mehr zu zählen ist (wir finden noch immer jedes Jahr mehr) und dass junge Hunde einen heilsamen Effekt auf Patienten mit inneren Wunden haben können - die Therapiehunde des Mittelalters.
Obwohl ihnen solche skurrilen Betrachtungen fehlten, besaßen die Enzyklopädien des 17. Jahrhunderts, wie z.B. die Historia Naturalis von John Jonston, unglaubliche Detailgenauigkeit. Sie ist in Bände wie De Arboribus et Fructibus, De Avibus und De Insectis unterteilt und bildet die Grundlage der modernen Zoologie. Zeitgenössische Tierdarstellungen in der Literatur und die Aufmerksamkeit, die den ökologischen Lehren mittelalterlicher Texte gewidmet wird, zeugen von der anhaltenden Faszination, die die Tiere des Feldes, die Vögel der Lüfte und die Fische des Meeres auf uns ausüben.