Gotische Buchmalerei
Die gotische Kunst entwickelte sich in Nordfrankreich in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, erfasste schließlich ganz Europa und währte in Nordeuropa bis in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts. Von der romanischen Kunst ausgehend schlug sich der Stilwandel am augenfälligsten in der Architektur nieder, für die besonders die Ablösung des römischen Rundbogens durch den gotischen Spitzbogen kennzeichnend ist, der möglicherweise von direktem Kontakt mit islamischer Architektur in Zeiten der Kreuzzüge und der spanischen Reconquista herrührte. Der Einbau der charakteristischen, übergroßen Buntglasfenster, deren Konstruktion durch den Bau von Strebewerken und den Errungenschaften einer fortschrittlicheren Ingenieurskunst ermöglicht wurde, verlieh den gotischen Gebäuden eine luftigere, offenere, licht- und farberfülltere Atmosphäre als ihren romanischen Vorgängerbauten.
In der Tafel-, Fresko- und Buchmalerei vollzog sich der Wandel sowohl am Beginn als auch am Ende der gotischen Epoche langsamer, weshalb sich an den Übergängen von der Romanik zur Gotik wie auch von der Gotik zur Renaissance Übergangsstile herausbildeten. Verglichen mit der Kunst der Romanik wirkte die gotische Buchmalerei belebter durch Figuren mit überlängten Körpern und ausdrucksstarken Gesichtsausdrücken, präsentiert in dekorativ eingefassten Bildfeldern, deren Rahmen Elemente zeitgenössischer Architektur aufgriffen.
Die Darstellung von Personen, Tieren und Pflanzen bewegte sich auf ein höheres Maß an Naturalismus und Detailgenauigkeit zu, während die Landschaft den Goldgrund als Hintergrund allmählich ersetzte und damit die spätere Herausbildung der Landschaftsmalerei als selbstständiges Genre ankündigte. Die Wurzeln eines aufkommenden humanistischen Bewusstseins fanden sich im künstlerischen Dekor ebenso wie in der schnell wachsenden Verbreitung weltlicher Texte. Die heutige Bezeichnung „Gotik“ war zunächst negativ besetzt, sie wurde im 16. Jahrhundert von dem italienischen Kunsttheoretiker Giorgio Vasari (1511-74) geprägt, der damit seine Geringschätzung gegenüber der mittelalterlichen Kunst zum Ausdruck brachte, die er als unordentlich, fremdartig und wirr empfand - also keineswegs vergleichbar mit den klassischen Formen der Renaissance, die in Italien seit der Antike nie ganz aus der Mode gekommen waren. In der Mitte des 18. Jahrhunderts erfuhr der gotische Stil eine positive Neubewertung, die in dem historistischen Wiederaufleben der Neugotik gipfelte. Die Gotik gilt bis heute als bedeutendste Leistung und eindrucksvollstes Symbol mittelalterlicher Kunstschöpfung.