Literatur

Literatur ist ein Spiegel der Gesellschaft - dieser Satz trifft auf das Mittelalter ebenso zu wie auf heute. Aus dem Mittelalter ist uns glücklicherweise eine Fülle von Manuskripten erhalten, deren Texte dem weiten Feld der Literatur zugerechnet werden können. Sie umfassen sowohl religiöse wie weltliche Themen, Geschichten von Liebe und Heldentum, von moralisierender, allegorisierender Natur, historische Chroniken, Mythen, Fabeln und Reiseberichte. Es war auch im Mittelalter, als die ersten weiblichen Autorinnen der Weltliteratur hervortraten. Einige von ihnen, wie Christine von Pizan wagten es sogar, die mittelalterlichen Moralvorstellungen und Rollenbilder von Frauen zu hinterfragen oder leisteten wertvolle Beiträge in den Naturwissenschaften.

Mittelalterliche Leser suchten nach Geschichten, die sie aus ihren kleinen Alltagswelten herausholten und sie in eine Welt der Abenteuer entführten, wie etwa nach Troja. Darüber hinaus hatten sie Bedarf nach moralisch-didaktischen Erzählungen, die ihr Leben bereichern und sie dazu inspirieren sollten, tugendhaft zu leben. Einige dieser Erzählungen basierten auf klassischen Mythen oder auf der heidnisch mündlichen Tradition des Nordens und mussten deshalb erst mit den christlichen Moralvorstellungen in Vereinbarung gebracht werden. Andere waren mythologisierte Nacherzählungen von echten Begebenheiten, wobei die realen Fakten dem Aspekt einer guten und unterhaltenden Geschichte bereitwillig untergeordnet wurden.

Mittelalterliche Literatur nimmt einen enorm umfangreichen Bereich ein, der so vielfältig und groß ist wie das gesamte europäische Mittelalter selbst. Begibt man sich darin auf Erkundung, ist man schnell überrascht, wie viele moderne Geschichten auf der mittelalterlichen Tradition aufbauen – oft unwissentlich. Vor allem aber eröffnet die mittelalterliche Literatur uns die Möglichkeit, unser Verständnis vom Leben und von den Vorstellungen der Menschen im Mittelalter zu erweitern und unsere eigenen Wurzeln in der entfernten Vergangenheit zu entdecken.

Veranschaulichung anhand einer Beispielseite

Buch vom liebentbrannten Herzen

Renés Herz ist gestohlen

René d’Anjou erlebte die Höhen und Tiefen des Lebens und der Liebe, während er sich bemühte, das Ideal der Ritte zu verkörpern, indem er ausschweifende Bankette und Turniere veranstaltete. Er betätigte sich zugleich als Autor, was unter dem mittelalterlichen Adel selten war. Seine allegorische Ritter-Romanze *Le Livre du Cuer d'amours espris* wurde durch den Verlust seiner geliebten Frau Isabella im Jahr 1453 inspiriert.

Die Geschichte beginnt, als Renés Herz, personifiziert durch den Ritter Cuer, von Amor gestohlen und dem Verlangen übergeben wird. René erwacht aus diesem Traum, überprüft seine Seite und fordert seinen Diener auf, ihm Stift und Papier zu bringen, damit er den Traum aufzeichnen könne. Der frühniederländische Meister Barthélemy d'Eyck konnte die bittersüße Natur des Textes mit einer der besten mittelalterlichen Buchmalereien festhalten, die jemals geschaffen wurden.