Beatus-Handschriften: Fesselnde Buchkunst zum berühmten Apokalypse-Kommentar des Beatus von Liébana
Die Beatus-Manuskripte, illuminierte Codices des Kommentars zur Apokalypse des spanischen Mönchs und Theologen Beatus von Liébana aus dem 8. Jahrhundert, zählen zu den faszinierendsten Codices, die im Mittelalter hergestellt wurden. Sie gelten als eigene Gattung innerhalb des weitläufigen Corpus herrlicher mittelalterlicher Manuskripte zur Apokalypse, wie das Buch der Offenbarung im Mittelalter gemeinhin genannt wurde.
Der Kommentar des Beatus ist bis heute in 27 Manuskripten erhalten geblieben, von denen einige erst in den letzten Jahren entdeckt wurden. Die hauptsächlich in Nordspanien angefertigsten Handschriften sind von besonderer Bedeutung für die spanische Kunstgeschichte, obschon auch in Frankreich und Italien Beatus-Manuskripte hergestellt wurden. Die fantastische Bildsprache und die endringlichen Farben wirken auf moderne Betrachter*innen oft zunächst unübersichtlich und verworren. Dem Auge, das mit der Ästhetik und dem Symbolismus des Mittelalters vertraut ist, kann sich die Illumination dieser herausragenden Kunstwerke jedoch leicht erschließen.
Veranschaulichung anhand einer Beispielseite
Das Vermächtnis des Beatus von Liébana
Beatus von Liébana, geboren im Kantabrischen Gebirge im Königreich Asturien um das Jahr 730 (gest. ca. 800), war einer der bedeutendsten Theologen des Frühmittelalters. Er stammte aus bescheidenen Verhältnissen, aber avancierte zum königlichen Beichtvater von Königin Adosinda von Asturien und unterrichtete andere große Gelehrte seiner Zeit wie Alkuin von York und Etherius von Osma.
Unsterblich wurde er durch die Bedeutsamkeit seines Kommentars zur Apokalypse, den er im Jahr 776 kompilierte und danach noch zweimal, in den Jahren 784 und 786, überarbeitete. Der Kommentar fand weite Verbreitung in illuminierten Manuskripten, den sogenannten Beatus-Handschriften, die zwischen dem 10. und 16. Jahrhundert entstanden und von denen heute 27 erhalten sind, einige davon kamen sogar erst in den letzten beiden Jahrzehnten zum Vorschein.
Beatus lebte unmittelbar in der Zeit nach der maurischen Eroberung des gotischen Spaniens. Themen von Abwehr und Widerstand durchziehen daher seinen Text, der selbst als ein frühmittelalterliches Symbol christlichen Widerstands gegen die islamische Invasion gesehen werden kann. In dieser Situation war das feindliche Ungeheuer nicht mehr das römische Reich, sondern das islamische Kalifat – Rom war somit abgelöst worden von Córdoba.
Ironischerweise finden Muslime allerdings kaum direkte Erwähnung im Text, außer im Zusammenhang mit christlicher Häresie. Diese Wahrnehmung der Muslime als christliche Häretiker, statt als Angehörige einer anderen Religion, war auch unter den byzantinischen Klerikern vorherrschend und ruft somit den gemeinsamen theologischen Ursprung in Erinnerung. Der Beatus-Kommentar eröffnet damit einen interessanten Einblick in frühe Auffassungen des Islams.
Muslime wurden als christliche Häretiker angesehen
Der Beatus-Kommentar
Der von Beatus verfasste Kommentar ist nicht besonders originell, aber ausnehmend wissenschaftlich und voller Bezüge, was Hinweis bietet auf die große Gelehrtheit des spanischen Mönchs. Die Kreativität seines Schreibens zeigt sich in dem breiten Spektrum seines Quellenmaterials: er bezieht sich auf praktisch jedes Buch der Bibel und daneben auf eine Vielzahl andere Quellen aus den Schriften verschiedener Kirchenväter und Theologen.
Beatus' Kommentar bedient sich diverser Quellen, von biblischen Texten bis zu den Kirchenvätern
Viele kritisierten die Unfähigkeit des Beatus, das komplizierte Narrativ der Johannesoffenbarung hinreichend entschlüsselt zu haben, und wiesen auf eine Reihe von Widersprüchen hin, die sich in seinem Kommentar häufen. Andere argumentierten, dass dies ein moderner Anspruch sei und dass der mittelalterliche Leser, der selbst schon eine chaotische, nahezu apokalyptische Welt voller Gegensätze bewohnte, in Beatus‘ Schriften Parallelen zum eigenen Leben fand.
Für Kulturhistoriker ist Beatus wohl tatsächlich als Zeitzeuge von größtem Wert, insofern sein Werk heimatbezogene Vergleiche aufweist, die auf Zeit und Ort seines Lebens verweisen. Seine Grundhaltung scheint, trotz der riskanten Lebensumstände im frühmittelalterlichen Spanien, von Hoffnung und Liebe getragen zu sein als auch von einer realistischen Haltung gegenüber der Politik und dem menschlichen Dasein. Die künstlerischen Bildprogramme, die den Text in den Manuskripten begleiten, sind typischerweise in Rot- und Gelbtönen gehalten, die mit dunkleren, geheimnisvolleren Farben kontrastieren.
Künstlerische Entwicklung
Obgleich das Original aus dem 8. Jahrhundert nicht überliefert ist, existieren frühe Exemplare aus der Familie „Zweig I“ des gesamten Corpus der Beatus-Manuskripte, die dem Stil und Charakter des Originals sehr nahekommen. Sie zählen zu den bedeutendsten Vertretern mozarabischer Kunst, darunter der sogenannte Codex Escorial und der zweibändige Codex San Miguel de Escalada.
Als die christlichen Königreiche Spaniens im 10. Jahrhundert begannen, gegen die Mauren anzukämpfen, entwickelten sich zur selben Zeit ein größerer Wohlstand und eine aufstrebende kulturelle Blüte durch künstlerische Einflüsse aus anderen Teilen Europas, die den Stil der Beatus-Illuminationen fundamental veränderten. Der fortschreitende Konflikt mit den Mauren blieb aber weiterhin ein übliches künstlerisches Thema.
Über die Zeit wurden die Codices immer größer und opulenter
Die Codices wurden größer und die kunstvolle Ausstattung der Exemplare der Familie „Zweig II“ wurde ausladender (die Miniaturen erstreckten sich nun bereits über Doppelseiten), reichhaltiger und schmuckreicher. Unter den nennenswertesten Codices befindet sich der Codex Ferdinand I. und Doña Sancha, der von König Ferdinand I. in Auftrag gegeben wurde und als Meilenstein der spanischen Illuminationskunst gilt.
Zu dieser zweiten Generation von Beatus-Manuskripten gehören die schönsten und einflussreichsten spanischen Handschriften, die den Anreiz für weitere Beatus-Manuskripte in Frankreich und Italien während des Hochmittelalters gaben, die gleichzeitig künstlerisch die letzte Generation darstellten. Der Codex von Saint-Sever gilt als einer der Höhepunkte der französischen Buchmalerei des 11. Jahrhunderts. Für die Geschichte der Buchmalerei ist an den Beatus-Handschriften besonders bedeutsam, dass ihnen häufig eine Weltkarte beigefügt wurde – ein seltener Einblick in die Geografie der nachrömischen Welt!
Die Entschlüsselung der Illuminationen
Das Buch der Offenbarung gilt als einer der enigmatischsten Texte der Bibel. In manchen Traditionen wird sie keinem der beiden Testamente des biblischen Kanons zugerechnet, sondern den Apokryphen zugeschrieben. Versucht man, die darin geschilderten Ereignisse direkt bildlich wiederzugeben, ergeben sich wahrlich seltsame und mysteriöse Illustrationen. Dennoch waren bildliche Darstellungen jeher dazu gedacht, den Textgehalt zu unterstützen sowie auch unabhängig davon, den Leser zur eigenen Kontemplation anzuregen.
Die Auswahl der Farben war besonders wichtig für die Bebilderung eines Manuskripts, insofern sie für mittelalterliche Europäer bestimmte Bedeutungen trugen. Helle Farbtöne und starke Kontraste, die nach heutigem Geschmack grell wirken, wurden von mittelalterlichen Betrachtern entsprechend anders verstanden, da ihnen die symbolische Bedeutung verschiedener Farben geläufig war, wie z. B. dass bestimmte Farben Gut oder Böse verkörperten.
Die Miniaturen des Codex San Miguel de Escalada sind farblich in drei parallele Streifen unterteilt, wodurch die simultane Darstellung von Ereignissen aus verschiedenen Zeiten verdeutlicht werden soll. Diese Miniaturen folgen nicht der typischen chronologischen Anordnung, die ein Lesen von links nach rechts, sowie von oben nach unten vorsieht. Stattdessen verweisen sie auf den Ort, an dem die Handlung stattfindet, den der mittelalterliche Betrachter sofort als Himmel, Erde und Hölle erkennen würde.
In diesem mangelnden Fokus auf chronologischer Genauigkeit liegt die Crux für jeden modernen Leser, der versucht, ein mittelalterliches Manuskript zu entschlüsseln – wir sind nicht das vorgesehene Zielpublikum dieser Werke. Jeder, der sich der Aufgabe stellt, diese mittelalterlichen Meisterwerke verstehen zu wollen, tut daher gut daran, sich vorher jeglicher Vorannahmen der Gegenwart zu entledigen und sich für neue Denkformen zu öffnen.