Apokalypsen

Die Apokalypse-Handschriften des Mittelalters sind zeitlose Klassiker unter Kunstliebhabern, und sie waren es wohl auch für die Künstler selbst, die sie einst schufen. Die Offenbarung des Johannes ist in der Tat eines der faszinierendsten Werke des westlichen Kulturkanons. Ihre kryptische Bildsprache zog seit jeher Theologen, Historiker, Kunsthistoriker, Literaturwissenschaftler, Philosophen und viele mehr in ihren Bann.

Für die mittelalterlichen Buchkünstler und Miniaturisten stellte die bildnerische Umsetzung der ungewohnt schrecklichen Schilderungen eine Möglichkeit dar, ihre Kreativität und künstlerische Freiheit voll zu entfalten und Bilder zu entwerfen, die unter anderen Umständen den Vorwurf der Blasphemie hervorgerufen hätten. Mit ihrem Sammelsurium an fantastischen Wesen, mysteriöser Zahlenmagie und faszinierendem Symbolismus ist die Apokalypse gleichsam eine Spielwiese für jeden Künstler, damals wie heute. Unbekannte karolingische Meister und namhafteste Künstler wie Albrecht Dürer zeigten sich gefesselt von dem besonderen Reiz des Textes. Handschriften der Apokalypse wurden ab dem 8. Jahrhundert bis einschließlich der Renaissance, dem Beginn des Zeitalters des Buchdrucks, geschaffen. An diesen Exemplaren lassen sich nahezu alle Kunststile und Epochen des europäischen Mittelalters ablesen. Im 8. Jahrhundert verfasste der spanischen Mönch Beatus von Liébana einen Kommentar zur Apokalypse, der enorme Verbreitung fand und mit 27 überlieferten Handschriften eine eigene Untergattung der Texttradition bildet.

Eine Nebeneinanderstellung der verschiedenen Handschriften und ihrer Miniaturenzyklen ist im Falle der Apokalypse besonders aufschlussreich. Da die Bilder dem gleichen Text folgen und das Programm der dargestellten Szenen relativ festgelegt war, lassen sich die Unterschiede zwischen den verschiedenen kunstgeschichtlichen Epochen, Stilen und Produktionsstätten besonders deutlich erkennen und nachverfolgen. Bis zum heutigen Tag zählen die Apokalypse-Handschriften zu den kostbarsten und meist gesuchten Artefakten der mittelalterlichen Buchkunst.

Veranschaulichung anhand einer Beispielseite

Gulbenkian Apokalypse

Der erste Reiter

Im Buch der Offenbarung lösen die sieben Siegel eine Reihe von Katastrophen aus: „Dann sah ich: Das Lamm öffnete das erste der sieben Siegel; und ich hörte das erste der vier Lebewesen wie mit Donnerstimme rufen: Komm! Da sah ich ein weißes Pferd; und der, der auf ihm saß, hatte einen Bogen. Ein Kranz wurde ihm gegeben und als Sieger zog er aus, um zu siegen.“ (Offb 6, 1-2) 

Diese feine Miniatur verwendet verschiedene Muster und Blattgold, um den natürlich gemalten Figuren ein zeitloses und raumloses Gepräge zu verleihen, eine typische Ästhetik der Apokalypse-Handschriften. Das weiße Pferd blickt mit strengem Gesicht nach vorne, wie ein Kriegspferd auf der Parade hat es den Vorderhuf erhoben, während der Reiter mit einem neutralen Ausdruck von der Seite schaut, als hätte er seine Mission bereis fast aufgegeben.

Glanz und Grauen der Apokalypse-Handschriften

In keinem anderen Genre mittelalterlicher Handschriften trifft man auf eine vergleichbare Fülle von fantastischen und bizarren Miniaturmalereien wie in den bebilderten Ausgaben der Offenbarung des Johannes, der biblischen Apokalypse. Dieses letzte Buch des Neuen Testaments ist ein Kaleidoskop von Sprachbildern, Zahlen, und rätselhaften Symbolen, das die Phantasie der Künstler zu den wunderbarsten und wundersamsten Schöpfungen inspirierte. Die Offenbarung des Johannes, die in diesen Handschriften als separates Buch niedergeschrieben wurde, schildert das Ende der Welt und die Wiederkunft Christi.

In ihrer besonderen Bildsprache tauchen Symbole, Zahlen und allerlei fantastisches Getier auf, die eine Vielzahl von Deutungsmöglichkeiten eröffnen. Das Spektrum der Ansätze ist in der Tat groß, angefangen von futuristischen Lesarten, die jedwede prophetische Zukunftsvision wortwörtlich nehmen, bis hin zu historisierenden Auslegungen, die die Schrift als eine Art sozialkritischen Kommentar verstanden wissen wollen, der in Beziehung zur Entstehungszeit der Apokalypse zu setzen sei, also zum 1. oder 2. Jahrhundert n. Chr., als die Christenverfolgung im römischen Reich besonders virulent war.

In keinem anderen Genre mittelalterlicher Handschriften trifft man auf eine vergleichbare Fülle von fantastischen und bizarren Miniaturmalereien

Neben ihrer rätselhaften Offenheit ist die Sprache der Apokalypse an vielen Stellen so sonderbar und furchterregend, dass sie sicherlich als blasphemisch oder geradewegs sündhaft abgetan worden wäre, wäre die Schrift nicht ein direkter Bestandteil der Bibel gewesen. Doch sind es genau diese Eigenheiten des Textes, die den Buchmalern ein noch nie da gewesenes Maß an künstlerischer Freiheit ermöglichten. Hier konnten sie aus dem Vollen ihres Talents und ihrer Kreativität schöpfen.

Die enigmatischen Schilderungen der Offenbarung gehörten deshalb zu den beliebtesten Themen der Buchmalerei im Mittelalter. Über mehrere Jahrhunderte genossen illuminierte Handschriften der Apokalypse eine enorme Beliebtheit in unterschiedlichen europäischen Ländern, deren künstlerische Traditionen sich in ihren Darstellungen gegenseitig beeinflussten und vermischten.

Ebenso hochgeschätzt war der Text selbst, dessen rätselhafter Symbolismus über 15 Jahrhunderte die Debatten um eine adäquate Auslegung belebte und auch heute noch ein notorischer Forschungsgegenstand von Theologen, Historikern, Literaturwissenschaftler und Experten allerlei Fachrichtungen ist – die Macht der Vision des Johannes ist nach wie vor ungebrochen.

Magischer Symbolismus

Und als es [das Lamm Gottes] das zweite Siegel auftat, hörte ich die zweite Gestalt sagen: Komm!

Und es kam heraus ein zweites Pferd, das war feuerrot. Und dem, der darauf saß, wurde Macht gegeben, den Frieden von der Erde zu nehmen, dass sie sich untereinander umbrächten, und ihm wurde ein großes Schwert gegeben.

(Offenbarung 6:3-4)

Ominöse Gestalten, schreckenerregende Tiere, mehrköpfige Ungeheuer, gebrochene Siegel, apokalyptische Himmelsreiter, Trompeten, Schalen, und stetig wiederkehrende Zahlen und Phrasen – all diese Symbole sind in der Apokalypse zu einem faszinierenden, bilderreichen Teppich verwoben.

Einheit zur Bedeutung der Johannesvision herrscht bis heute nicht. Es ist das ewig Rätselhafte, das die fortdauernde Faszination des Textes ausmacht. Die Apokalypse ist ein Geheimnis, das sich nie wird lösen lassen, die dem Leser aber hinreichend Anhaltspunkte gibt, um vereinzelte Dinge zu erkennen und um deshalb immer weiter zu suchen nach dem einen großen, umfassenden Sinn hinter dieser unglaublichen Geschichte.

In den Apokalypse-Handschriften ist der Text zusätzlich noch um die Dimension der bildlichen Darstellung erweitert: fantastische Miniaturen, historisierte Initialen und Randdekorationen der bedeutendsten Künstler des Mittelalters unterstreichen und steigern den Zauber und die Anziehungskraft des Werkes, nicht ohne dem Leser gelegentlich auch eine Hilfestellung bei der Visualisierung der oftmals verwirrenden Ereignisse der Apokalypse zu geben.

Ein zeitloser Favorit

Als Albrecht Dürer (1417–1528) für seine eigene gedruckte Apokalypse-Ausgabe Apocalipsis cum figuris den weltberühmten Bilderzyklus von 16 Holzschnitten schuf, wurde er Teil einer Tradition, die bereits 800 Jahre währte. Die westliche Tradition der Apokalypse-Handschriften existierte schon, als dem Text durch die Abfassung des ersten Kommentars im 8. Jahrhundert durch den spanischen Heiligen Beatus von Liébana eine weitere Bedeutung zukam als Objekt der Exegese.

Durch die Bemühung um Auslegung, geriet das Buch in weiteren Fokus und das Interesse daran wuchs. Bald war der Kommentar des Beatus so gefragt, dass die entstandenen Abschriften, den Beatus-Handschriften, eine eigene Untergattung zu den übergeordneten Apokalypse-Handschriften bildeten. 27 Exemplare dieser Kommentar-Handschriften, deren Entstehung sich über einen Zeitraum von 500 Jahre erstreckt, wurden bis zum heutigen Tag überliefert. Sie zählen zu Spaniens wertvollsten Kunstschätzen und werden weltweit in den prominentesten und berühmtesten Museen und Bibliotheken aufbewahrt.

Aus Beatus' Apokalypse-Kommentar entwickelte sich ein eigenes Sub-Genre der Apokalypse-Handschriften

Jenseits der Pyrenäen und des Rheins

Als die Manuskriptherstellung unter der Herrschaft der Karolinger Schwung aufnahm, entstanden in den Schreibstuben der berühmten Klöster von Aachen, Lorsch und Trier wahre Wunderwerke der Buchkunst. Darunter befanden sich auch prächtig illuminierte Handschriften zur Apokalypse, die zu den Meisterwerken der karolingischen Buchmalerei zählen. Die älteste und umfangreichste Abschrift ist die Trierer Apokalypse (ca. 800) mit 74 Miniaturen, deren Stilistik stark paläochristliche Züge trägt und römischen Einfluss verrät, was sich besonders in der Darstellung der Engel und Dämonen zeigt, die an römische Gottheiten erinnern.

Ein ganz eigenes künstlerisches Gepräge zeichnet die Apokalypse von Valenciennes (ca. 800–825) aus, benannt nach ihrem heutigen Aufbewahrungsort. Hier verbinden sich Traditionen aus Flandern und aus dem Rheintal mit Elementen der insularen Buchmalerei, wie beispielsweise dem keltischen Knotenmuster, das in Rahmendekors zu finden ist. Bald waren Apokalypse-Handschriften auch jenseits des Rheins keine Seltenheit mehr, das Sujet war beliebt und erfuhr Verbreitung. Entwicklungen der ottonischen Kunst schlugen sich in den Miniaturen und Schmuckelementen nieder.

Aus ottonischer Zeit ist nur ein einziges Apokalypse-Manuskript erhalten

Tatsächlich ist nur ein einziges Exemplar der Apokalypse aus der Ottonik überliefert, jedoch ist es kein Geringeres als die berühmte Bamberger Apokalypse. Sie gilt als Meisterwerk der renommierten Malschule des Klosters Reichenau und wurde im Jahr 2003 in die Liste des UNESCO-Weltdokumentenerbes aufgenommen. Die Handschrift zeigt 57 prächtige Miniaturen auf poliertem Goldgrund im Stil byzantinischer Malerei sowie eine Vielzahl dekorativer Initialen, die mit keltischen Knotenmustern und anderen Motiven der insularen Buchmalerei verziert sind.

Die einzigartige Handschrift war ein kaiserliches Auftragswerk und wurde in den Jahren 1000-1020 angefertigt, zunächst auf das Geheiß Kaiser Ottos III., und nach dessen unerwartetem Tod, unter der Schirmherrschaft seines Nachfolgers Heinrich II., der das Werk vollenden ließ.

Verbreitung in England

In der Romanik verschob sich das Zentrum der Herstellung von Apokalypse-Handschriften wiederum, nämlich nach England, wo alsbald einige der erlesensten und bedeutendsten Exemplare entstanden. Besonders mit den Apokalypsen der englischen Gotik erreichte die insulare Buchkunst einen ihrer Höhepunkte.

Einige der schönsten Apokalypse-Handschriften entstanden in England

In der Oxforder Apokalypse (ca. 1272) zeigt sich der stilistische Übergang von Romanik zu Gotik besonders eindrücklich: typisch romanische Merkmale werden hier allmählich von neuartigen, luftigeren und eleganteren gotischen Stilelementen abgelöst. Die Handschrift ist außerdem ein frühes Beispiel für das spezielle Bildprogramm, das die insularen Apokalypsen kennzeichnet. Jede der 97 goldenen, halbseitigen Miniaturen befindet sich im oberen Bereich der Seite über dem Erzähltext, der die untere Seitenhälfte einnimmt.

Abgesehen von kleineren Abweichungen, folgen die Handschriften des mittleren 13. Jahrhunderts dieser Bildeinteilung im Großen und Ganzen, wie etwa die Apokalypse von Paris des Meisters von Sarum, der alle 100 Seiten des Codex mit Bildern ausstattete, oder etwa die Lambeth-Apokalypse mit ihren prächtigen Goldgründen. Diese englischen Handschriften sind nicht nur kostbarste Kunstdenkmäler der mittelalterlichen Buchmalerei, sie waren zudem wegweisend und inspirierend für die nächste Generation von Apokalypse-Handschriften, die auf dem Festland hervorgingen.

Rückkehr der Apokalypse auf den Kontinent

In der sogenannten Flämischen Apokalypse, entstanden in den Jahren 1400–1410, wurde das englische Gestaltungsprinzip der halbseitigen Miniaturen zugunsten ganzseitiger Bilder aufgegeben. Den Miniaturen standen nun die vollständigen Recto-Seiten zur Verfügung, den korrespondierenden Textteilen die gegenüberliegenden Verso-Seiten. Diese Neuerung vollzog sich im Kontext einer größeren Wandlung, der Entwicklung der Kunst von der Gotik zur Renaissance.

Ein Glanzstück des Spätmittelalters ging zunächst noch aus den kunstfertigen Händen der talentiertesten französischen Miniaturisten des 15. Jahrhunderts hervor: die Künstler Jean Bapteur (aktiv zwischen 1427 und 1458), Péront Lamy (gest. 1453) und Jean Colombe (ca. 1430 – ca. 1493) fertigten in einem Zeitraum von 60 Jahren die Dekorationen zu der Apokalypse der Herzöge von Savoyen an.

Dieses exquisite Werk bewahrt einerseits die englische Aufteilung in halbseitige Miniaturen mit Text im unteren Teil, integriert jedoch die Fülle und Opulenz des französischen gotischen Stils sowie die neuartigen künstlerischen Raffinessen der Renaissancemalerei wie erweiterter Bordürenschmuck und Einsatz von Perspektive.

Eine Kombination des althergebrachten Bildprogramms und der Kunstfertigkeit der französischen Gotik

Die Apokalypse in der Druckerpresse

Das Aufkommen der Inkunabeln tat der Popularität der Apokalypse-Handschriften keinen Abbruch, sie waren weiterhin ein beliebtes Thema in der Buchproduktion. Der Buchdruck schließlich verhalf dem Genre sogar zu einer neuen Blüte und begünstigte eine neue, größere Verbreitung in ganz Europa. Um das Jahr 1460 entstand in den Niederlanden oder im Rheinland die Apocalypsis Johannis mit einer herausragenden Serie von 96 Holzschnitten.

Die Drucke, ganzseitig oder zweigeteilt, wurden von Hand nachkoloriert und sind mit vielerlei Symbolen angereichert. Beispielsweise wird die herannahende Reformation in den Darstellungen angedeutet, wenn etwa dem Klerus darin keinerlei Respekt und Gnade zuteilwird und er vielmehr mitsamt der restlichen Menschheit für seine Sündhaftigkeit bestraft wird.

In vielen Apokalypse-Inkunabeln deutet sich die kommende Reformation bereits in der Bildsprache an

Die Apokalypse von Albrecht Dürer gilt als eines der Meisterwerke des größten Künstlers der deutschen Renaissance. Bereits bei Zeitgenossen rief es große Bewunderung hervor und auch für Dürer selbst war es ein riesiger finanzieller Erfolg. Dürers 15 Miniaturen in Schwarz-Weiß-Optik, worunter die Darstellungen der vier apokalyptischen Reiter besonders hervorstechen, sind mitreißend, gespenstisch und von unglaublicher Detailarbeit. Lange wirken sie im Gedächtnis des Betrachters nach.

Mit diesem Höhepunkt der künstlerischen Bearbeitung der Johannesoffenbarung ist die Tradition jedoch noch lange nicht zu Ende. Interesse an dem besonderen Text erwuchs zunehmend in Osteuropa, vor allem in Russland, wo illuminierte Apokalypsen bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts hergestellt wurden.