Die Gemeinschaft der Heiligen in himmlischen Sphären: Allerheiligen in der Buchmalerei des Mittelalters

Denken wir an Allerheiligen, haben wohl viele Assoziationen mit in Nebel getauchten Friedhöfen, zahllosen Kerzen und Kränzen und auch Prozessionen im Kopf. Die im Mittelalter entstandene Ikonografie zeigt hingegen das, was auf Erden nicht sichtbar ist, und eröffnet einen Einblick in himmlische Sphären, in denen die Heiligen bereits mit Gott vereint sind und den Zustand ewiger Glückseligkeit erreicht haben. Doch wie werden „alle Heiligen“ in ein einziges Bild gebracht? Diese künstlerische Aufgabe barg vor allem für die Buchmalerei Herausforderungen, musste das Sujet doch oftmals auf kleinstem Raum realisiert werden. Im folgenden Beitrag möchten wir einen Eindruck von den vielfältigen und kunstvollen buchmalerischen Lösungen, mit denen mittelalterliche Buchmaler den Grundstein für die monumentalen Allerheiligenbilder auf großen Leinwänden und in eindrucksvollen Deckenfresken legten, vermitteln. Beginnen wollen wir jedoch mit einem Überblick über die Entstehung und Bedeutung dieses Feiertags.

Allerheiligen: Gedenktag und Hochfest

Wie der Name bereits andeutet, wird an Allerheiligen aller christlichen Heiligen über Gebete und Fürbitten gedacht. Darunter fallen nicht nur offiziell vom Papst heiliggesprochene Verstorbene wie etwa die geräderte Märtyrerin Katharina von Alexandrien oder der französische König Ludwig der Heilige, sondern auch jene, die im Stillen konsequent ein Leben im Sinne des christlichen Glaubens geführt haben. Sie alle sind dem Glauben nach direkt in den Himmel aufgefahren, um in seliger Gemeinschaft mit Gott im Himmel bzw. im Paradies ihr ewiges Leben zu genießen. Sowohl in der orthodoxen als auch in der katholischen Kirche hat der Feiertag den Status eines Hochfestes, was die Bedeutsamkeit des Heiligengedenkens unterstreicht.

Der Herrentag aller Heiligen

Die Ursprünge von Allerheiligen lassen sich bis ins 4. Jahrhundert zurückverfolgen. Bereits zu dieser Zeit wurde in der Ostkirche ein Hochfest zu Ehren aller Märtyrer, die keinen eigenen Gedenktag hatten, am ersten Sonntag nach Pfingsten eingeführt, woraus sich der Herrentag aller Heiligen etablierte. Entscheidend dazu beigetragen hat der Prediger und Erzbischof von Konstantinopel Johannes Chrysostomos (344/349–407), der sich in seinen Predigten und Schriften dafür stark machte, nicht nur einzelne, sondern alle Heiligen zu verehren.

 

Allerheiligen im lateinischen Westen

Einen entsprechenden Festtag gab es im lateinischen Westen das erste Mal im 7. Jahrhundert, als Papst Bonifatius IV. († 615) am 13. Mai 609 oder 610 das vormals „heidnischen“ Göttern geweihte Pantheon in Rom der Jungfrau Maria und allen Märtyrern weihte. Angelehnt an den im Osten bereits etablierten Herrentag aller Heiligen, legte er den jährlichen Feiertag zu Ehren der Märtyrer auf den Freitag nach Ostern. Die zeitliche Nähe zum Fest der Auferstehung betont dabei den Zusammenhang des österlichen Heilsgeschehens und dem Leben und Wirken der Märtyrer und Heiligen.

Die Weihe einer Kapelle des Petersdoms in Rom zu Ehren aller Heiligen im 8. Jahrhundert gab Papst Gregor III. († 741) den Anlass dazu, diesen Festtag auf alle Märtyrer und Heiligen auszuweiten und ihn auf den 1. November zu verlegen. Diese Regelung galt zwar zunächst nur für die Stadt Rom, breitete sich jedoch in den folgenden Jahrzehnten rasch über das gesamte von der Westkirche dominierte Gebiet aus. Im 9. Jahrhundert führte Papst Gregor IV. († 844) den Feiertag Allerheiligen (lat. Festum Omnium Sanctorum) schließlich am 1. November im offiziellen Kirchenjahr als Hochfest ein.

Doppelfest: Allerheiligen und Allerseelen

In Ergänzung dazu etablierte sich in der Westkirche im 10. Jahrhundert zudem der Feiertag Allerseelen (lat. Dies in commemoratione omnium fidelium defunctorum), der am Tag nach Allerheiligen, dem 2. November, begangen wird. Hierbei gedenken die Gläubigen ihren verstorbenen Verwandten und Bekannten und beten für sie. Beide Feiertage sind als Doppelfest eng verbunden und in vielen Regionen verschmilzt das zugehörige Brauchtum. So werden die Gräber der Verstorbenen, den eigentlich am 2. November gedacht wird, oft bereits an Allerheiligen besucht, da der Tag in einigen Regionen ein gesetzlicher Feiertag ist, an dem die meisten Menschen nicht arbeiten müssen.

 

Die Umsetzung in der Buchmalerei: Alle Heiligen in einem Bild

Das Gedenken aller Heiligen brachte verschiedene Bildtypen hervor, die oftmals die entsprechenden Teile von liturgischen Handschriften und Stundenbüchern illuminieren, etwa die Allerheiligenlitanei. Ein wunderbares Beispiel hierfür ist eine prächtig gestaltete Doppelseite des Farnese-Stundenbuchs: Hier sind in goldener Schrift die anzurufenden Heiligen aufgeführt. Während in der unteren Hälfte der Doppelseite die irdische Zelebration des Feiertags dargestellt wird, erscheint oben der Himmel als wolkige Sphäre, aus der Engel hervorkommen und die die Gemeinschaft der Heiligen aufnimmt. Diese gruppiert sich auf jeder Seite um ein leuchtendes Zentrum – links die Dreifaltigkeit, rechts Maria Muttergottes – und wird als eine mit dem Horizont verschmelzende Menschenmasse gezeigt, deren Größe kaum zu erfassen ist.

 

Die Gemeinschaft der Heiligen

Die Gemeinschaft der Heiligen wird jedoch auch in andere Bildthemen eingebunden, etwa dem Weltgericht oder der Marienkrönung. Generell begleitet sie meist eine göttliche bzw. zentrale christliche Instanz, etwa Christusdarstellungen, die Dreifaltigkeit, Maria auf dem Thron Salomonis oder auch die Personifikation der Ecclesia und betont deren Verehrung. Zugleich wird auch immer eine Vorstellung eines glückseligen Lebens nach dem Tod, auf das die Gläubigen hoffen, verbildlicht. Dabei werden oft auch einzelne Heilige besonders herausgestellt, indem sie mit eindeutigen Attributen oder Inschriften versehen werden, wie etwa im Benediktionale und Pontifikale.

In der Regel wird die heilige Gemeinschaft hierarchisch in verschiedene Ränge unterteilt, die in den Darstellungen jedoch nicht immer ersichtlich sind: Engel, alttestamentarische Könige, Propheten und Erzväter, Apostel, Kirchenväter und heilige Bischöfe, Märtyrer und Mönche, Einsiedler, gerechte Könige und schließlich die heiligen Jungfrauen, zu denen Märtyrerinnen, gerechte Fürstinnen und Nonnen gehören. Diese Hierarchie wird im Sakramentar von Metz besonders klar herausgestellt, wenn auch nur fünf Ränge differenziert werden.

Künstlerische Kreativität und Innovation

Insgesamt bat das Bildthema trotz der recht einheitlichen ikonografischen Grundform allein durch die schiere Menge an möglichen Figuren ein großes Potenzial für künstlerische Kreativität und Innovation, das vom frühen Mittelalter bis in die Neuzeit immer wieder ausgeschöpft wurde und die kunstvollsten Bildwerke hervorbrachte.

Wer also mit der Ikonographie des Mittelalters zumindest ein wenig vertraut ist, wird mit Allerheiligen und Allerseelen nicht mehr nur das Ehren der Verstorbenen in Messen und auf den Friedhöfen assoziieren, sondern auch die (einfalls-)reiche Bearbeitung dieses Themas in der Buchmalerei.