Der Übergang vom ottonischen zum romanischen Stil: Ein unvollendet gebliebenes Meisterwerk aus dem Kloster Reichenau
Reichenauer Evangelistar
Kloster Reichenau (Deutschland) — Zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts

Reichenauer Evangelistar
Kloster Reichenau (Deutschland) — Zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts
In der ottonischen Zeit entstand eine Reihe prächtige Reichenauer Handschriften für die Führer des Reichs
Diese unvollendet gebliebenen Handschrift markiert die Übergangsphase vom ottonischen zum romanischen Stil
Die Miniaturen haben einen ausgeprägten figurativen Stil mit geschwungenen Gesten, die ihre Ausdruckskraft steigern
Reichenauer Evangelistar
- Reichenau Gospel Lectionary
- Reichenau Evangelistary
Kurzbeschreibung
Das Skriptorium des Klosters Reichenau im Bodensee war im 11. Jahrhundert die bedeutendste abendländische Malschule. Das Reichenauer Evangelistar bietet auf 91 Folios dem Leser die zentralen Abschnitte der Heilsgeschichte für den jeweiligen Sonntag dar. Seine Miniaturen stehen nicht nur auf Grund ihrer durch viel Gold erzielten Strahlkraft in der Tradition der ottonischen Kunst. Deren straffe Bildordnung wird jedoch durch den expressiven Figurenstil, der jede statuarische Steifheit überwindet, über sich hinausgeführt und nimmt schon das romanische Kunstwollen vorweg. Die lebendig-ausdrucksstarke Mimik bewirkt eine Emotionalisierung der Texte und bindet den Betrachter in das Geschehen ein. Die Frage, warum dieses faszinierende Werk unvollendet blieb, gibt bis heute Rätsel auf: Der Herrscher des Widmungsbildes ist ebenso nicht klar zu identifizieren, sodass möglicherweise der Grund für die Schenkung des Codex entfallen sein könnte.
Reichenauer Buchkunst höchster Qualität
Das Reichenauer Evangelistar ist vor über 900 Jahren vermutlich im Skriptorium des Klosters Reichenau, der damals bedeutendsten abendländischen Malschule, entstanden und gilt heute als Schlüsselwerk für die Beurteilung der Reichenauer Buchmalerei.
Auf den 182 Seiten (91 Folios) dieses Evangelistars werden dem Leser die zentralen Abschnitte der Heilsgeschichte dargeboten. Die teils ganzseitigen, teils streifenartig in den Text eingefügten Miniaturen, deren Strahlkraft durch die reiche Verwendung von Gold erhöht wird, stehen noch ganz in der Tradition der ottonischen Kunst.
Es sind vor allem diese Miniaturen, die mit ihrem für die Reichenauer Schule so charakteristischen, eigentümlich spröden Reiz den Betrachter in ihren Bann ziehen. Zur straffen Ordnung der Bildanlagen – einem Erbe der ottonischen Kunst – tritt unvermutet ein das romanische Kunstwollen vorwegnehmender expressiver Figurenstil, der jede statuarische Steifheit überwindet. Weit ausholende Gesten tragen einen starken Bewegungsimpuls ins Bild; die Steigerung des mimischen Ausdrucks führt zu einer Emotionalisierung und Verlebendigung des biblischen Geschehens.
Mit dem unmittelbaren Nebeneinander von Elementen verschiedener Stilstufen erweist sich das Reichenauer Evangelistar als ein typisches Produkt einer Übergangszeit, in dem Tradition und Neubeginn ihre deutlichen Spuren hinterlassen und zu einer einmaligen, in dieser Kombination unwiederholbaren Synthese zusammengefunden haben.
Ein liturgisches Buch
Der Text des Reichenauer Evangelistars ist in karolingischen Minuskeln abgefasst und mit zahlreichen prunkvollen Initialen ausgestattet. Er beginnt mit einer der vier Vorreden zum Evangelienbuch, nämlich mit der dritten Vorrede des Hieronymus. Anschließend folgen die vier den einzelnen Evangelien vorangestellten Prologe. Die Perikopen setzen mit der Lesung "In vigilia nativitate domini" ein, gefolgt von den Lesungen des Kirchenjahres von Weihnachten über Ostern bis zum 26. Sonntag nach Pfingsten; anschließend die vier Adventsonntage, die Heiligenfeste und Votivmessen.
Ein kostbares Geschenk für einen Herrscher
Bezeichnend für den Gesamtcharakter der Handschrift ist es, dass sie unvollendet blieb. Denn es fehlen einige Bilder, und auch die Miniatur der Geburt Johannes des Täufers blieb unvollendet. Dies ist um so überraschender, als es sich um eine Gabe an höchste Stelle handelt, wie aus dem Widmungsbild zu schließen ist.
Das Dedikationsbild zeigt einen bekrönten Herrscher, der in seiner Linken einen mit einem Adler besetzten Reichsapfel hält. Links von ihm reicht ihm ein Mönch ein Buch dar, das zweifellos mit dem Reichenauer Evangelistar zu identifizieren ist.
Welcher Herrscher im Widmungsbild dargestellt wird, ist nicht gänzlich geklärt. Neben Heinrich IV. wurde immer wieder Heinrich III. als Adressat der Handschrift genannt. Vielleicht lassen sich auch der Herrscher auf der einen Seite und die Nichtvollendung der Handschrift auf der anderen Seite in einen historischen Zusammenhang bringen: Die Handschrift blieb unvollendet, da der Anlass ihrer Schenkung entfallen war.
Eine einzigartige Handschrift
Trotz einiger offener Fragen erweist sich diese Handschrift als ein charakteristisches Beispiel einer Phase des Übergangs. Die stark bewegte und lebendige Gestaltung des biblischen Geschehens wandelt den ottonischen Formenkanon ab. Imperiale Traditionen verbinden sich mit einem Bemühen um die Reinheit in Schrift und Liturgie.
Kodikologie
- Alternativ-Titel
- Reichenau Gospel Lectionary
Reichenau Evangelistary - Umfang / Format
- 182 Seiten / 28,0 x 21,0 cm
- Herkunft
- Kloster Reichenau (Deutschland)
- Datum
- Zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts
- Epoche
- Stil
- Genre
- Sprache
- Buchschmuck
- 29 Miniaturen, entweder ganzseitigen oder in Streifen, mit reichen Goldschmuck, 6 Zierseiten und zahlreiche herrliche Initialbuchstaben
1 verfügbare Faksimile-Ausgabe(n) von „Reichenauer Evangelistar“
Das Reichenauer Evangelistar
- Verlag
- Akademische Druck- u. Verlagsanstalt (ADEVA) – Graz, 1972
- Einband
- Pergament, dem Charakter der Handschrift entsprechend.
- Kommentar
-
1 Band (98 Seiten) von P. Bloch
Sprache: Deutsch
Der wissenschaftliche Kommentar wurde von Peter Bloch verfasst und enthält eine kodikologische und kunsthistorische Einführung in das Reichenauer Evangelistar.
Kunsthistorische und kodikologische Untersuchung von P. Bloch, Berlin. 98 Seiten Text. 23 Tafeln mit 86 Abbildungen. - Mehr Informationen
- Möglichst detailgetreue Reproduktion des gesamten Originaldokuments (Umfang, Format, Farbigkeit). Der Einband entspricht möglicherweise nicht dem ursprünglichen oder aktuellen Dokumenteneinband.
Dazu passende Werke
Krönungsevangeliar des Heiligen Römischen Reiches
Bestandteil der Reichsinsignien, mit Goldtine auf Purpurpergament geschrieben: Jeder deutsche Kaiser schwor seinen Eid mit seiner Hand auf diesem Buch
Erfahren Sie mehrWiener Genesis
Eine der ältesten erhaltenen biblischen Handschriften: Griechischer Text in Silbertinte und bezaubernde Miniaturen auf purpurgefärbten Pergament
Erfahren Sie mehrDazu passende Hintergrund-Artikel
Bibeln
Man könnte annehmen, dass Bibeln die meist verbreitetsten mittelalterlichen Handschriften waren, oder? Falsch. Der...Erfahren Sie mehrOttonisch
Die ottonische Dynastie versuchte, sich als Erbin des Weströmischen Reichs und Gegenspielerin des Byzantinischen Reichs...Erfahren Sie mehr11. Jahrhundert
Erfahren Sie mehrEvangeliare
Matthäus, Markus, Lukas und Johannes waren die Stars des Mittelalters. Luxuriöse Evangelien gehörten deshalb zu den...Erfahren Sie mehr
- Abhandlungen / Weltliche Werke
- Apokalypsen / Beatus-Handschriften
- Astronomie / Astrologie
- Bestiarien
- Bibeln / Evangeliare
- Chroniken / Geschichte / Recht
- Geographie / Karten
- Heiligen-Legenden
- Islam / Orientalisch
- Judentum / Hebräisch
- Kassetten (Einzelblatt-Sammlungen)
- Leonardo da Vinci
- Literatur / Dichtung
- Liturgische Handschriften
- Medizin / Botanik / Alchemie
- Musik
- Mythologie / Prophezeiungen
- Psalterien
- Sonstige religiöse Werke
- Spiele / Jagd
- Stundenbücher / Gebetbücher
- Sonstiges Genres
- Aboca Museum
- Akademische Druck- u. Verlagsanstalt (ADEVA)
- Aldo Ausilio Editore - Bottega d’Erasmo
- Alecto Historical Editions
- Ars Magna
- ArtCodex
- AyN Ediciones
- Bärenreiter-Verlag
- Belser Verlag
- Belser Verlag / WK Wertkontor
- Bernardinum Wydawnictwo
- BiblioGemma
- Biblioteca Apostolica Vaticana (Vaticanstadt, Vaticanstadt)
- Bibliotheca Palatina Faksimile Verlag
- Bibliotheca Rara
- CAPSA, Ars Scriptoria
- Circulo Cientifico
- Club Bibliófilo Versol
- CM Editores
- Collezione Apocrifa Da Vinci
- Comissão Nacional para as Comemorações dos Descobrimentos Portugueses
- Coron Verlag
- De Agostini/UTET
- DIAMM
- E. Schreiber Graphische Kunstanstalten
- Ediciones Boreal
- Ediciones Grial
- Edilan
- Editalia
- Edition Leipzig
- Edition Libri Illustri
- Editiones Reales Sitios S. L.
- Editions Medicina Rara
- Editorial Mintzoa
- Egeria, S.L.
- Extraordinary Editions
- Facsimile Editions Ltd.
- Facsimilia Art & Edition Ebert KG
- Faksimile Verlag
- Franco Cosimo Panini Editore
- Fundación Hullera Vasco-Leonesa
- Giunti Editore
- Graffiti
- Grafica European Center of Fine Arts
- Helikon
- Herder Verlag
- Hes & De Graaf Publishers
- Hugo Schmidt Verlag
- Idion Verlag
- Il Bulino, edizioni d'arte
- Imago
- Insel Verlag
- Istituto dell'Enciclopedia Italiana - Treccani
- Istituto Poligrafico e Zecca dello Stato
- Kaydeda Ediciones
- Kurt Wolff Verlag
- La Meta Editore
- Leo S. Olschki
- Libreria Musicale Italiana
- Lumen Artis
- MASA
- M. Moleiro Editor
- Manuscriptum
- Millennium Liber
- Müller & Schindler
- Nova Charta
- Orbis Mediaevalis
- Orbis Pictus
- Österreichische Staatsdruckerei
- Patrimonio Ediciones
- PIAF
- Popyläen Verlag
- Prestel Verlag
- Priuli & Verlucca, editori
- Pro Sport Verlag
- Pytheas Books
- Quaternio Verlag Luzern
- Reales Sitios
- Reichert Verlag
- Roberto Vattori Editore
- Salerno Editrice
- Schöck ArtPrint Kft.
- Scrinium
- Scripta Maneant
- Scriptorium
- Siloé, arte y bibliofilia
- Styria Verlag
- Tempus Libri
- Testimonio Compañía Editorial
- The Clear Vue Publishing Partnership Limited
- The Facsimile Codex
- The Folio Society
- Tip.Le.Co
- TouchArt
- Trident Editore
- Vallecchi
- Van Wijnen
- Vicent Garcia Editores
- Wiener Mechitharisten-Congregation (Wien, Österreich)
- Yushodo
- Xuntanza Editorial