Turnierbuch für René d´Anjou
Ein Turnier war für Ritter mehr als sportlicher Wettbewerb. Die Kämpfer konnten die Werte eines ganzen Standes zeigen: etwa êre (Würde); manheit (Tapferkeit) und staete (Beständigkeit). Es waren Veranstaltungen von idealisierender Selbstdarstellung und Selbstbestätigung einer Kerngruppe der Gesellschaft. René d'Anjou (1409–80), König von Neapel und Sizilien, Herzog von Anjou, Bar und Lothringen, veranstalte Turniere, die von Dichtern im ganzen Land besungen wurden. Diese von ihm in Auftrag gegebene Handschrift beschreibt ein außergewöhnliches Turnier, zu dem er 1446 die Elite des französischen Hochadels nach Saumur an der Loire eingeladen war. Die 3952 Verse beschreiben detailliert die Kleidung und Waffen der Teilnehmer. Die entscheidenden Momente des Turniers geben 90 meisterhaft aquarellierte Federzeichnungen für die Nachwelt wieder. Sie basieren auf den verlorenen Originalzeichnungen von Barthélemy d'Eyck (ca. 1420-ca. 1470).
Phantastische Bilder eines großen Ritterturniers
Keine andere Ausdrucksform spiegelt das Rittertum und seine Kultur so verlässlich wider wie das Turnier. Im streng ritualisierten Kampf Mann gegen Mann fanden die Ritter die idealen Bedingungen zur Demonstration all jener Tugenden, die ihrem Leben Sinn und Inhalt gaben. Damit war das Turnier weit mehr als ein sportlicher Wettbewerb. Es war die idealisierende Selbstdarstellung und zugleich Selbstbestätigung einer Gesellschaftsgruppe, die über Jahrhunderte hinweg zu den prägenden Kräften des Morgen- wie auch des Abendlandes gehörte.
Bei der Ausrichtung der prächtigen Ritterspiele kam den großen Fürstenhöfen entscheidende Bedeutung zu. Nur sie konnten sich den damit verbundenen finanziellen Aufwand leisten, nur hier wurden den Kämpfern ein sachkundiges, anspornendes Publikum und – neben Anerkennung und Ruhm für den Sieg – auch die Teilhabe am höfischen Glanz geboten.
René d’Anjou: Politiker, Mäzen, Dichter
Zu den großzügigsten Turnierherren seiner Zeit zählte René d’Anjou. Er war nicht nur ein ehrgeiziger Fürst, der in der französischen und italienischen Politik des 15. Jh.s eine eindrucksvolle Rolle spielte. Er war auch ein feinsinniger Mäzen der schönen Künste, und er versuchte sich selbst in der Dichtung. Darüber hinaus verstand es René aber auch, glanzvolle Feste zu geben. Die von ihm ausgerichteten Turniere waren im ganzen Land berühmt und wurden von den Dichtern besungen.
Die Handschrift in St. Petersburg:
ein Buch von unschätzbarem dokumentarischen Wert
Die wahrscheinlich vom Turnierherrn in Auftrag gegebene, von einem anonymen Autor verfasste Handschrift vermittelt ein eindrucksvolles Bild jenes großen Turniers, zu dem der Herzog von Anjou im Sommer 1446 die Elite des französischen Hochadels auf sein an der Loire gelegenes Schloss bei Saumur zusammengerufen hatte. Mehr als 90 Ritter waren dieser Einladung gefolgt, um an den Festlichkeiten teilzunehmen und im Kampf ihre Bravour und Tapferkeit unter Beweis zu stellen. Der in 3952 Versen abgefasste Text enthält neben detailreichen Beschreibungen der phantasievollen Bekleidung und der kostbaren Waffen der Akteure auch Aussagen über die tiefere Bedeutung eines Turniers für die zeitgenössische Rittergesellschaft und Hinweise auf den Verhaltens- und Ehrencodex, dem sich jeder Teilnehmer unterwerfen musste. Der Text macht deutlich, dass alles an diesem Turnier Inszenierung war: Die Teilnehmer verkörperten Rollen in einem Spiel, das nach einem streng vorgegebenen höfisch-erotischen Zeremoniell ablief und in dem das Thema Liebe sowohl Anlaß als auch treibende Kraft war.
Phantastische Illustrationen
90 farbenprächtig aquarellierte Federzeichnungen, die die entscheidenden Abschnitte des ritterlichen Kampfspieles illustrieren, setzen die poetischen Sprachbilder des Textes in eine ausdrucksstarke Bildsprache um. Der feierliche Einzug der Turnierteilnehmer, die Wahl des Gegners durch Berühren seines an einem Wappenbaum hängenden Schildes mit dem Speer; das Aufrufen der Kontrahenten zum Kampf; der Zweikampf der schwer gerüsteten Reiter und die Ehrung der Sieger – das sind die Motive, die der Miniator meisterhaft komponierte.
Mit ihrem eindeutigen Bezug auf das Turnier von Saumur stellt diese Handschrift eines jener seltenen Dokumente dar, in denen ein Ritterspiel als realhistorisches Ereignis vorgeführt wird. Darin liegt ihr unschätzbarer Wert als Quelle für die höfische Kultur des Mittelalters.
Der verschlungene Weg der Handschrift nach St. Petersburg
Der Verbleib des Codex in den ersten zwei Jahrhunderten nach seiner Entstehung ist bis heute nicht geklärt. Erst im 17. Jahrhundert lässt sich die Handschrift in der Bibliothek des französischen Kanzlers Pierre Seguier erstmals nachweisen.
Danach gelangte sie in den Besitz seiner Exzellenz Henry Cambout de Coislin, des Bischofs von Metz, der sie – einer Eintragung auf der Widmungsseite zufolge – 1732 in einer testamentarischen Verfügung der Bibliothek der Abtei Saint-Germain-des-Près vermachte.
Von dort konnte im Jahre 1794 der russische Botschaftsangehörige Peter Dubrowsky den Codex für seine Sammlung erwerben. Dubrowsky kehrte 1805 in seine Heimat zurück. Mit zahlreichen anderen kostbaren Büchern gelangte auch das „Turnierbuch für René d’Anjou“ nach St. Petersburg. Seit damals galt die Handschrift als verschollen, ja bereits als verloren, bis sie im Jahre 1913 in der Bibliothek des Zaren aufgefunden wurde. Damit ist nicht nur die einzige erhaltene Beschreibung des berühmten „Pas du Perron“, sondern zugleich eine der wertvollsten Primärquellen für die Kenntnis der mittelalterlichen Ritterspiele wiederentdeckt worden.
Kodikologie
- Alternativ-Titel
- Tournament Book of René d´Anjou
- Umfang / Format
- 108 Seiten / 37,0 × 27,0 cm
- Herkunft
- Frankreich
- Datum
- Um 1446
- Stil
- Sprache
- Auftraggeber
- René d’Anjou, König von Neapel und Sizilien, Herzog von Anjou, Bar und Lothringen
- Künstler / Schule
- Barthélemy d’Eyck
Turnierbuch für René d´Anjou
Zwei Ritter kämpfen
Während ihre Gefolgsleute zusehen, stürmen zwei Ritter in voller Plattenrüstung und durch eine "Kippbarriere" getrennt aufeinander zu - im ikonischsten Ereignis des Turniers, dem Tjost. Beide Ritter tragen aufwändige Helme, die mit bunten Bändern und Vögeln verziert sind. Vögel galten als die edelsten Tiere und wurden als solche auf aristokratischen Tafeln am höchsten geschätzt. Ihre Pferde tragen zum Schutz ihrer Gesichter Stachelkandaren und sind mit aufwändig gestalteten Caparisons geschmückt.
Das Turnierbuch des René d'Anjou
Eine prächtige Parade
Turniere waren ursprünglich nicht viel mehr als Schlägereien zwischen Rittern, die sich langweilten und denen nichts Sinnvolleres einfiel. Diese oft tödlichen Wettkämpfe konnten in Gassen, auf Feldern und sogar in den Häusern von Bauern stattfinden. Im Spätmittelalter wurden die Turniere organisierter, kamen mehr Aufführungen gleich und wurden damit auch sicherer. Zusätzliche Spektakel wie ein Festumzug wurden im Rahmen dessen ein Teil der Feierlichkeiten.
Dieser Parade edler Ritter gehen zwei Löwen, die Könige der Tiere, voraus, die von zwei unerschrockenen Männern an Ketten geführt werden. Gepanzerte Ritter und edle Damen reiten aus dem Burgtor heraus und über die Zugbrücke auf den Betrachter zu. Bläser mit Fahnen an ihren Instrumenten kündigen den Einzug des Zuges auf dem Turnierfeld an.
#1 Das Turnierbuch für René d´Anjou
Details zur Faksimile-Edition:
Sprache: Deutsch
Der in deutscher und französischer Sprache verfasste Kommentar wurde von einem Team von Wissenschaftlern der Russischen Nationalbibliothek erarbeitet und enthält neben Beiträgen zu Geschichte, Aufbau und künstlerischer Bedeutung der Handschrift auch eine vollständige Transkription des altfranzösischen Originaltextes.
N. Elagina, J. Malinin, T. Voronova, D. Zypkin, St. Petersburg. Ausführlicher wissenschaftlicher Kommentar mit Beiträgen zu Inhalt und Struktur sowie Entstehungsgeschichte, kunstwissenschaftlicher und historischer Bedeutung der Handschrift; Transkription des altfranzösischen Textes.
Der in deutscher und französischer Sprache verfasste Kommentar wurde von einem Team von Wissenschaftlern der Russischen Nationalbibliothek erarbeitet und enthält neben Beiträgen zu Geschichte, Aufbau und künstlerischer Bedeutung der Handschrift auch eine vollständige Transkription des altfranzösischen Originaltextes.
N. Elagina, J. Malinin, T. Voronova, D. Zypkin, St. Petersburg. Ausführlicher wissenschaftlicher Kommentar mit Beiträgen zu Inhalt und Struktur sowie Entstehungsgeschichte, kunstwissenschaftlicher und historischer Bedeutung der Handschrift; Transkription des altfranzösischen Textes.
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