Otfrid von Weißenburg: Evangelienharmonie
Im 9. Jahrhundert Rhabanus Maurus (um 780–856) als Lehrer und Studien bei ihm in Fulda angeben zu können, ist heute einem Aufenthalt in Oxford vergleichbar. Otfrid von Weißenburg (um 790–875) wurde jedenfalls nach seinem Aufenthalt wohl Mitglied der Hofkapelle, ehe er sich als Gelehrter im Kloster Weißenburg im Elsass in den Funktionen eines Lehrers, Bibliothekars und Exegets betätigte. Dort vollendete er vor 871 diese Evangelienharmonie, einen Text, der aus den vier Evangelien eine einheitliche Darstellung des Lebens und Wirkens Jesu kompiliert und ein zentrales Interesse der karolingischen Renaissance wiederspiegelt, nämlich die Ergründung der christlichen Heilsgeschichte durch das kreative Studium der biblischen Texte. Das Besondere an Otfrids ist nun, dass er nicht etwa auf Latein schreibt, sondern auf Althochdeutsch und damit einer der ersten bekannten deutschen Dichter wird; er reimt die insgesamt 7106 Verse mit Binnenreimen im später so benannten Otfridvers und löst dadurch den germanischen Stabreim ab. Im Codex Vindobonensis 2687 ist Otfrids Hand noch selbst greifbar: Es ist das Exemplar, das der Magister selbst gebraucht und korrigiert hat.
Otfrid von Weißenburg: Evangelienharmonie
Otfried von Weißenburg (um 790–875), der dieses Evangelienbuch ‚geformt nach den Perikopen des Kirchenjahres ... nach langer Arbeit zwischen 863 und 871 abgeschlossen‘ haben dürfte, war Magister an der Klosterschule in Weißenburg bzw. Wissembourg, heute Frankreich, und gehört zu den zahlreichen Schülern des einflussreichen Gelehrten Hrabanus Maurus (um 780–856) aus Fulda. Er ist der erste namentlich bekannte Literat, dessen deutschsprachigen Reime überliefert sind. Dass er volkssprachlich arbeitete, ist insofern erstaunlich, als dass gerade im monastischen Kontext das Primat des Lateinischen herrschte und der heimische südrheinfränkische Dialekt für Otfried noch als agrestis lingua (dt. wildwüchsige Sprache) galt.
Das direkte Zeugnis eines großen Gelehrten
Die vielen erhaltenen Abschriften des althochdeutschen Bibelepos belegen seine große Beliebtheit. Das Besondere am Cod. 2687 der Österreichischen Nationalbibliothek ist nun, dass es sich um die Handschrift handelt, die Otfrid selbst gebraucht und korrigiert hat. Durch die zahlreichen Korrekturen von der Hand des Magisters "erleben wir das Werden des endgültigen Textes". Dieser arrangiert die kanonischen Informationen zum Leben Christi aus den vier Evangelien in chronologischer Reihenfolge neu: das Werk ist in fünf Bücher gegliedert, die jeweils von einem Lebensabschnitt Jesu berichten. Otfrid unternahm also den mutigen Versuch, die des Lateinischen womöglich nicht mächtigen Leserschaft in die Welt der frohen Botschaft einzuführen. Zugleich finden wir in dieser Handschrift auch eine Anweisung zum Vortrag des Textes, dessen innovative Binnenreime im später so benannten Otfridvers den germanischen Stabreim ablösen sollten.
Szenen aus der Vita Christi und der beschwerliche Weg zum Seelenfrieden
Beachtenswert sind auch die vier ganzseitigen Illuminationen. So zeigt die erste Seite des Manuskripts ein rundes Labyrinth, das den Betrachter*innen vor Augen führen soll, wie schwierig und langwierig der Weg ins Himmelreich ist. Es gibt außerdem kolorierte Federzeichnungen zu zentralen Szenen aus dem Leben Christi: sein Einzug in Jerusalem, das letzte Abendmahl sowie die Kreuzigung mit Maria und Johannes. Während die Bilder wohl von einer einzigen Hand stammen, wurde der Text offenbar von vier verschiedenen Schreibern des Skriptoriums in Weißenburg geschrieben – plus Otfrids eigenhändige Annotationen. Es handelt sich also wahrscheinlich um ein monastisches Gemeinschaftswerk unter der Leitung des Magisters und Autors.
Einem König gewidmet
Wie damals üblich für religiöse Schriften dieser Art widmete Otfrid sein Werk wichtigen Persönlichkeiten seiner Zeit. Die erste Widmung richtet sich an Ludwig den Deutschen, König des Ostfrankenreichs (reg. 843–876), und ist ebenfalls in Althochdeutsch verfasst. Die anderen beiden Widmungsgedichte sind hingegen interessanterweise auf Latein formuliert und richten sich an andere Kleriker: Salomo I., Bischof von Konstanz († 871) sowie seine Ordensbrüder Hartmuat and Werinbert. Die Handschrift enthält zudem eine Abschrift eines lateinischen Briefes an Liutbert, Abt des Klosters Weißenburg und später Erzbischof von Mainz († 889), in dem Otfrid seine Motivation und sein Vorgehen erläutert. Alle vier Texte erlauben die Eingrenzung der Datierung der Handschrift auf die Zeitspanne zwischen 863 und 871. Wo sich der Codex nach seiner Entstehung und Nutzung durch den Magister befand, ist ein bisher ungelöstes Rätsel, tritt er doch in Quellen erst im Jahr 1576 in Wien das erste Mal wieder in Erscheinung, wo er seither verblieben ist.
Kodikologie
- Alternativ-Titel
- Otfrid von Weißenburg: Gospel Harmony
- Umfang / Format
- 388 Seiten / 25,0 × 21,0 cm
- Herkunft
- Frankreich
- Datum
- 863–871
- Epoche
- Stil
- Schrift
- Karolingische Minuskel
- Buchschmuck
- 4 ganzseitige kolorierte Federzeichnungen, Incipits und Initialen in roter Auszeichnungsschrift
- Inhalt
- Vita Christi, kompiliert aus den vier Evangelien
- Künstler / Schule
- Otfried von Weißenburg (um 800 – nach 870) (Kompilator und Schreiber)
Otfrid von Weißenburg: Evangelienharmonie
Das Letzte Abendmahl
Jesus sitzt an einem großen runden Tisch, der ganz in ein opulentes Tischtuch eingehüllt ist und auf dem drei Brote und zwei Weinkelche liegen bzw. stehen. Auffällig ist zudem das große gelbe (goldene) Gefäß, in dem das Pessach-Lamm liegt. Jesus wendet sich mit einem Redegestus den 12 Aposteln zu, die ihm in zwei Reihen gegenübersitzen. Er erzählt ihnen wohl gerade vom kommenden Verrat – einige schauen ihn bedrückt an und gestikulieren ungläubig, während Judas (im blauen Gewand) mit seinen Fingern die Tischkante umklammert.
Otfrid von Weißenburg: Evangelienharmonie
Kreuzigung
Nur mit einem roten Lendenschurz bekleidet ist Jesus an das breite lateinische Kreuz genagelt, dessen Form die Miniatur dominiert. Blut läuft aus seinen Wunden an Händen und Füßen und wird von einem Kelch auf dem Sockel des Leidenswerkzeugs aufgefangen, was die eucharistische Deutung seines Kreuzestodes hervorhebt. Der Kreuztitulus ist vollständig ausgeschrieben: „Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum“ (dt. „Jesus von Nazaret, König der Juden“).
Besonders eindrücklich sind die Figuren der Maria und des Johannes, die mit Gesten der Verzweiflung um ihren geliebten Sohn bzw. Mentor trauern, während Christus in völliger Akzeptanz seines Schicksals friedvoll auf seine Mutter herabblickt. Er wird dabei von Sol (Sonne) und Luna (Mond) flankiert, die trauernd in zwei Clipei am Himmel erscheinen und die allumfassende Bedeutsamkeit des Opfertodes Jesu symbolisieren.
#1 Otfrid von Weißenburg: Evangelienharmonie
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